M. Reder: Religion in säkularer Gesellschaft

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Titel
Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie


Autor(en)
Redner, Michael
Reihe
Alber Praktische Philosophie 86
Erschienen
Freiburg 2013: Karl Alber Verlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Boss Günther

Michael Reder habilitierte sich mit der vorliegenden Arbeit 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Fach Philosophie. Mittlerweile hat Reder eine Professur für Sozial- und Religionsphilosophie an der Hochschule für Philosophie SJ in München inne. Er konnte bereits mit einer früheren Publikation auf sich aufmerksam machen: Zusammen mit Josef Schmidt gab er 2008 einen suhrkamp-Band heraus, der eine Diskussion mit Jürgen Habermas über dessen Begriff «postsäkular» dokumentiert (Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 2008).

Jürgen Habermas ist es auch, der den Kreis der sechs Philosophen eröffnet, denen sich Reder im Hauptteil seiner Habilitationsschrift (Kapitel 3) widmet. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich in ihrem Denken (wieder) pointiert mit der Religionsthematik auseinandersetzen. Nebst Jürgen Habermas wählte Reder für seine Studien Richard Rorty, Michael Walzer, Niklas Luhmann, Jacques Derrida und Gianni Vattimo als Referenzautoren. Damit ist zugleich ein Panoptikum gezeichnet, das we¬sentliche Richtungen heutiger politischer Philosophie abbildet (Liberalismus, Pragmatismus, Kommunitarismus, Systemtheorie, Postmoderne). Vermissen wird man in diesem Reigen allenfalls den kanadischen Kommunitaristen Charles Taylor, der für das Verständnis der Säkularisierung wichtige Überlegungen vorgelegt hat (vgl. zur Begründung bei Reder 35, FN 25).

Reder stellt diesen sechs Studien zwei einleitende Kapitel voran (Kapitel 1 und 2). Das erste Kapitel «Religion im Kontext der Säkularisierung» (13–37) skizziert die Wandlungen des Säkularisierungsparadigmas, thematisiert die neue Aufmerksamkeit für Religion in der philosophischen Debatte und führt in die Fragestellung und Struktur der Arbeit ein. Das zweite Kapitel «Interdisziplinäre Kontexte» (38–73) referiert namhafte Religionstheorien der Moderne, ohne schon einen abschliessenden Religionsbegriff vorzulegen. Reder unterscheidet sodann eine kantische von einer hegelschen Tradition politischer Philosophie und sieht einen Vorzug Hegels darin, dass er Kants Trennung von Moralität und Legalität zurücknimmt und die Vielfalt sozialer und moralischer Praktiken als Voraussetzung des Politischen zu integrieren erlaubt (vgl. 67). Somit hat Reder ein gewisses «Schema» (vgl. 70–73) gewonnen, mit dem er sich den einzelnen Vertretern politischer Philosophie zuwenden kann.
«Postsäkularität und die Folgen für die Demokratie» – unter diesem Titel rekonstruiert Reder den Ansatz von Jürgen Habermas (74–127). Reder kann zeigen, dass im «postmetaphysischen Denken» von Habermas die Religion erst relativ spät, ab Mitte der 1990er Jahre, verstärkte Aufmerksamkeit findet. Der Begriff der «postsäkularen Gesellschaft» wurde besonders durch Habermas‘ Rede bei der Verleihung des Friedenspreises 2001 zum Ausgangspunkt einer breiten Debatte. Gemäss Reder ist «postsäkular» «nicht nur ein deskriptiver Begriff, der dem faktischen Bedeutungszuwachs von Religionen in weltgesellschaftlichen Diskursen Rechnung trägt, sondern er ist auch ein normativer Begriff, weil mit ihm ausgedrückt wird, dass Religionen ein moralisches Potenzial implizieren, das für die Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme von Bedeutung ist» (89). Habermas setzt dabei die neuzeitliche Trennung von Kirche und Staat sowie die Geltung der Religionsfreiheit voraus. In diesem Rahmen sieht er die Religionen als eine ernstzunehmende Stimme und als moralisches Potenzial für den demokratischen Diskurs. Die Religionen müssen ihre Überzeugungen in der Öffentlichkeit allerdings in eine säkulare Sprache übersetzen (Übersetzungsvorbehalt).

Bei jedem Autor lässt Reder auf die Darstellung eine kritische Diskussion folgen. Anfragen an Habermas sind etwa, ob er Religion nicht zu sehr funktionalisiere, indem er diese «für eine reflexive Bearbeitung der moralischen Probleme der Moderne» instrumentalisiere (vgl. 109). Ausserdem problematisiert Reder die strikte Unterscheidung von Glauben und Wissen (112–117) sowie von Moral und Ethik (118–121) bei Habermas. Reder identifiziert Habermasʼ Religionsverständnis als Fideismus, weil Glaube hier letztlich als nichtrationale Entscheidung des einzelnen Menschen gedeutet werde (vgl. 113, 117).

Nur stichwortartig sei hier auf die weiteren Studien eingegangen: Richard Rorty (127–159) kritisiert die traditionelle Metaphysik, plädiert für einen «Nonfoundationalism» und für eine liberale Begrenzung von Religion. Er entwirft als philosophisches Leitbild die Figur der «liberalen Ironikerin». Rortys Religionskritik ist gekennzeichnet von einem Antiklerikalismus. Religion gehört für Rorty in den privaten Bereich, nicht in den öffentlichen. «Religion kann für Rorty [...] weder in einer metaphysischen Wahrheit noch in einem natürlichen religiösen Bedürfnis verankert werden, sondern sie ist ein Kulturprodukt, das Orientierung bei der individuellen Selbsterschaffung bietet» (141f). In Rortys polytheistischem Humanismus sieht Reder einen utilitaristischen Grundzug des Religionsverständnisses am Werk (vgl. 148). Reder kritisiert zudem, dass Rortys säkularer Liberalismus selber weltanschaulich gefärbt sei und dass Rorty Religion als soziale Praxis letztlich nicht anerkennen könne (vgl. 154ff).
Näher beim religiösen Phänomen zeigt sich der Kommunitarist Michael Walzer (160–190). Er erschliesst, insbesondere auf dem Boden der jüdischen Überlieferung, einen stärker kulturgeschichtlichen Zugang zur Religion. Statt einer strikten Trennung von Religion und Politik fordert er eine permanente «Kunst der Trennung» (vgl. 178). Walzer kann der Religion – die allerdings ein ambivalentes Phänomen bleibt – mehr Spielraum im Bereich des Politischen einräumen als Habermas und Rorty.
Niklas Luhmann (191–220) entwickelt zunächst eine systemtheoretische Interpretation der Religion als «Komplexitätsreduktion». Religion wird von ihm als soziales Teilsystem begriffen, der Gottesbegriff als «Kontingenzformel». Auf diese Weise kann Religion in modernen Gesellschaften «sehr wohl ein Gewinner der funktionalen Ausdifferenzierung sein» (208). Reder wür¬digt an Luhmann die Leistung, die Funktion der Religion in modernen Gesellschaften zu bestimmen und sie nicht auf die moralische Dimension einzuengen. Dennoch sieht Reder in der systemtheoretischen Konzeption und Codierung der Religion verschiedene Engführungen. Er regt deshalb eine Ergänzung durch eine stärker religionsphilosophische Innensicht auf Religion an (vgl. 220).

In Jacques Derridas Dekonstruktion von Religion (221–268) beobachtet Reder – entgegen Derridas Selbsteinschätzung – eine strukturelle Nähe zur Tradition negativer Theologie. «Eine Stärke der derridaschen Konzeption einer Religion als Wiederholung und einer Religion ohne Religion ist, dass er phänomenologische, sprachphilosophische und religionsphilosophische Argumente in die Erklärung der Wiederkehr der Religion einbezieht» (257).

Gianni Vattimo schliesslich (269–298) deutet Religion als Ursprung des «schwachen Denkens» und greift das biblische KenosisMotiv auf. «Wahrheit bedeutet im Christentum für Vattimo die Ablehnung eines objektiven Zugangs zur Wirklichkeit und gleichzeitig einen moralischen Appell zur Nächstenliebe, die sich in der Gedankenfigur der caritas manifestiert» (283). In der neuzeitlichen Säkularisierung sieht Vattimo keine antireligiöse Entwicklung, sondern die eigentliche Essenz des Christentums (vgl. 285). Reder kann Vattimos hermeneutischer Religionsdeutung positive Aspekte abgewinnen, zu weitreichend ist ihm allerdings Vattimos Interpretation der Religion als Basis der Postmoderne (vgl. 298).
Reder ortet zusammenfassend in allen sechs Ansätzen eine «Transformation des herkömmlichen Säkularisierungsparadigmas» (313). Mit wenigen Strichen benennt er einige «Leerstellen des Diskurses» (316–319), und er sieht verschiedene Reduktionismen oder eine verkürzte Religionsphänomenologie in den vorgestellten Ansätzen.

Mit philosophiehistorischen Impulsen im Anschluss an Nikolaus von Kues, Friedrich Schleiermacher und John Dewey möchte Reder den aktuellen Diskurs über Religion ergänzen und erweitern. Ob sich alle Religionen mit ihren widerstreitenden Wahrheitsansprüchen in Reders, an Cusanus angelehnte, Konzeption eines «wissenden Nichtwissens» wiederfinden können, ist die Frage. Mit weiterführenden Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Kultur (cultural turn) und einem kurzen Fazit schliesst die Arbeit Reders ab. Für die politische Philosophie gehe es heute – so Reders Schlussfazit – «vor allem um eine konstruktive Einbindung weltanschaulicher Überzeugungen und Akteure in den Prozess demokratischer Deliberation» (412).

Reder legt eine sehr komplexe Arbeit vor, die Philosophien ganz unterschiedlicher Gestalt und verschiedener Sprachräume beleuchtet. Durch den konsequent systematisierenden Zugriff und die deutliche Unterscheidung von Darstellung und Kritik gelingt ihm ein stimmiger und umfassender Parcours durch die Religionsthematik in der gegenwärtigen politischen Philosophie. Mit seinem theologisch und religionsphilosophisch geschulten Blick vermag Reder in den gegenwärtigen Debatten auch Verkürzungen des Religiösen zu lokalisieren. Man wird seinen Einschätzungen weitgehend folgen.

Die Arbeit bewegt sich gewissermassen auf einem mittleren Abstraktionsniveau. Sie referiert nicht religionssoziologische Forschungen, um die These von der «Renaissance des Religiösen» empirisch nachweisen zu können. Es handelt sich aber auch nicht um ein Werk der Religionsphilosophie oder Metaphysik, sondern um die Thematisierung des Religiösen in der politischen Philosophie – wie der Untertitel treffend zum Ausdruck bringt. Eine stärkere Eingrenzung der Referenzautoren und eine fokussierte Deutung am Primärtext (Reder durchmischt – besonders in der Derrida-Studie – die Ebenen von Primär- und Sekundärliteratur) hätte vielleicht die begriffliche Präzision gesteigert. So bleiben auch die Konklusionen Reders auf einem mittleren Abstraktionsniveau stehen – wenngleich das Gesamtwerk eine beeindruckende Zusammenschau bietet. Das umfangreiche Literaturverzeichnis ist zugleich eine Fundgrube zum Thema; leider fehlen ein Personen- und Sachregister.

Zitierweise:
Günther Boss: Rezension zu: Michael Reder, Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie (= Alber Praktische Philosophie 86), Freiburg/München, Verlag Karl Alber, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 477-480.

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